Was ist zeitgenössische Musik?

„Musik stellt Ordnungsverhältnisse in der Zeit dar.“ Mit diesem Satz brachte der Komponist Karlheinz Stockhausen 1957 sein Verständnis von Musik auf den Punkt. In der grundlegenden Reduktion auf das strukturelle Wesen von Musik als Kunstform, die sich in der Zeit abspielt, verbirgt sich zugleich eine radikale klangliche Offenheit: Alle akustischen Ereignisse – vom instrumentalen Ton bis zum elektronisch erzeugten Geräusch – sind innerhalb einer Komposition gleichberechtigt und in besonderer Weise angeordnet. Der klanglichen Vielfalt sind dabei keine Grenzen gesetzt, ob quietschende Autoreifen, klirrendes Glas oder das knarzende Holz eines Violinkorpus.

20. und 21. Jahrhundert – E-Musik

Stockhausens Feststellung und ihre Konsequenzen lassen sich – in zunehmendem Maße – in der Musik seit Anfang des 20. Jahrhunderts und grundsätzlich in der des 21. Jahrhunderts beobachten. Darüber hinaus können sie als grundlegend gelten für Musik, die sich unter diesen Prämissen im besonderen Maße als künstlerisch-reflektierend und als entsprechend kunstvoll gearbeitet versteht. Damit ist zum einen der Zeitraum abgesteckt, in dem die sogenannte zeitgenössische Musik verortet ist, zum anderen aber auch die Art von Musik, die mit dem Begriff gemeint ist; nämlich diejenige, die in der Klassifikation der GEMA mit dem Begriff E-Musik (ernste Musik) im Unterschied zur U-Musik (Unterhaltungsmusik) bezeichnet wird. Wobei die Berührungspunkte zwischen beiden Musikarten gerade in der zeitgenössischen Musik der 2000er Jahre durchaus vielfältiger sind, als diese Unterscheidung vermittelt.

Zeitgenössisch und doch nicht zeitgenössisch

Gleichzeitig wird aber auch ein Dilemma deutlich, das den Begriff der zeitgenössischen Musik auszeichnet. Denn zeitgenössisch im weitesten Sinne ist in der Musik zunächst einmal alles, was in einer bestimmten, auch von den Hörerinnen und Hörern noch erlebten Zeitspanne komponiert wird, also auch klassische (E-)Musik traditioneller Couleur, Jazz, Popmusik, Welt- und Filmmusik usw. All dies ist hier mit zeitgenössischer Musik im engeren Sinne aber nicht gemeint. Andererseits muss das, was als zeitgenössische Musik bezeichnet wird, nicht immer zur jeweils aktuellen Zeit entstanden sein. So werden z.B. auch Kompositionen aus den 1980er Jahren zeitgenössisch genannt, z.B. Wolfgang Rihms „Chiffre-Zyklus“ (1982-88), weil sie der oben grob umrissenen Musikart zuzurechnen sind.

Der Aspekt des Neuen

Um der zeitgenössischen Musik weiter auf die Spur zu kommen, ist eine kleine Zeitreise nötig: 1919 prägte der Musikpublizist Paul Bekker den Begriff „Neue Musik“, um innovative Entwicklungen im Bereich der Tonkunst seit Beginn des 20. Jahrhunderts zusammenzufassen und voranzubringen. Arnold Schönberg (1874-1951) kommt hierbei eine exponierte Stellung zu: Mit den Drei Klavierstücken op. 11 (1909) etwa, vor allem op. 11 Nr. 3, lieferte er das Paradestück der frei atonalen Musik, im Sinne einer endgültigen Loslösung vom tradierten Dur-Moll-System. Dies war der entscheidende Schritt für eine Öffnung der Musik, der die Grundlagen schuf für die oben beschriebene Freiheit und Vielfalt ihrer klanglichen Erscheinungen. Eine Epochenwende, die bis heute wirkt. Öffnung und Befreiung betrafen indessen nicht nur den Klang der Musik, sondern z.B. auch ihre Form. Anstelle von festgelegten Schemata – wie etwa der Sonatenform – wurde jedes Werk immer mehr individuell nach den jeweils nötigen Ausdrucksbedürfnissen der Komponistinnen und Komponisten gestaltet. Entsprechend individuell und nicht selten ungewohnt klang und klingt die Musik. Ebenso änderten sich die Besetzungen, tendenziell weg von den voluminösen Klangkörpern der Romantik hin zu kleineren, kompakteren Solistenensembles. Seit diesen und weiteren Entwicklungen gehört auch der Aspekt des Neuen grundlegend zu dem, was unter zeitgenössischer Musik im engeren Sinne verstanden wird.

Undefinierbar und überaus vielfältig

In diesem Rahmen werden Begriffe wie zeitgenössische Musik und Neue Musik häufig synonym verwendet, wobei unter Neuer Musik (mit großem „N“) meist die „moderne Musik“ des 20. Jahrhunderts verstanden wird. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, spricht man vermehrt von „neuer Musik“ (mit kleinem „n“) oder „aktueller Musik“, um sich diesem zeitlich-stilistischen Rahmen sowie der Festlegung auf bestimmte Richtungen oder Schulen zu entziehen und die Offenheit des musikalischen Schaffens zu betonen. Der Unschärfe all dieser und weiterer Begrifflichkeiten  ist allerdings kaum zu entkommen. Schlüssig und befriedigend definieren lassen sie sich alle nicht. Denn das Panorama der klanglich-musikalischen Erscheinungen, die sie umfassen, ist deutlich größer und vielfältiger, als diese Ausführungen vermuten lassen.

Neue Wege wagen

Hier soll indessen mit zeitgenössischer Musik vor allem jene Musik gemeint sein, bei der Komponist:innen in der jeweils jüngsten Zeit versuchen, neue, eigene Wege zu gehen, neue musikalische Mittel für zeitgemäße künstlerische Ausdrucksformen, für die Weiterentwicklung und Differenzierung der (E-)Musik zu finden. Ähnliche Formen des Experimentierens verfolgen im Übrigen auch die Interpreten zeitgenössischer Musik, z.B. mit neuen Konzert- und Aufführungsformaten. Dieses Spiel mit künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten ist essenziell für einen kulturellen Diskurs, kulturelle Entwicklung und die Fähigkeit zur Selbstreflexion unserer Gesellschaft.

Auch deshalb und in diesem Sinne unterstützt Podium Gegenwart das Wirken junger ambitionierter Komponistinnen und Komponisten sowie Interpretinnen und Interpreten, setzt sich für dessen breitere Wahrnehmung und Wertschätzung ein. Und die mit dem Stockhausen-Zitat beschriebene Öffnung der Musik ermöglicht heute eine Vielfalt musikalischen Lebens gerade in der zeitgenössischen Musik, wie sie seiner Zeit kaum vorstellbar gewesen sein mag, von Solowerken, über Ensemble- bis zu Orchesterstücken, von Performance über Musiktheater bis zu Videokunst, von Komponiertem bis zu Improvisiertem, von elektronischer Musik über Computermusik bis zu Soundscapes, Soundsculptures und Klangcollagen, von Klangkunst bis zu intermedialen Installationen.

Weiterführende Informationen:

  • Hermann Danuser, Artikel Neue Musik, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), 2., überarbeitete Ausgabe, Sachteil Bd. 7, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel 1997
  • Hermann Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd. 7, hrsg. von Carl Dahlhaus, Laaber 1984
  • Stefan Fricke, Zeitgenössische Musik: Strukturen und Entwicklungen, auf: www.miz.org/themenportale/neue-musik  (Stand: 4. Juli 2019)
  • Stefan Fricke und Susanne Laurentius, Zeitgenössische Musik: Ästhetiken und Strömungen, auf: www.miz.org/themenportale/neue-musik  (Stand: 4. Juli 2019)
  • Jörn Peter Hiekel: Artikel Neue Musik, in: Lexikon Neue Musik, hrsg. von Jörn Peter Hiekel und Christian Utz, Stuttgart und Kassel 2016, S. 434-444
  • Christoph von Blumröder, Das Ende der Neuen Musik, in: Die Musikforschung, 72. Jahrgang, Heft 3, hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung von Panja Mücke u.a., Kassel 2019, S. 201-211
  • Diverse, Neue Musik aus Deutschland, auf: https://www.goethe.de/de/kul/mus/gen/neu.html (Stand: 4. Juli 2019)

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