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VON DER PERFORMANCE ZUR KLANGKUNST

"Am liebsten sind mir die Zeiten der Morgendämmerung und der Abenddämmerung: die 'Zwischenzeiten', die so zeitlos erscheinen, dass alles möglich werden kann."
(Christina Kubisch)

Die Musikerin, Komponistin und Bildende Künstlerin Christina Kubisch, geboren 1948 in Bremen, gehört zu den wichtigsten Künstlern, die bereits in den 1970er und 1980er Jahren in ihren raum- und ortspezifischen Arbeiten visuelle Elemente mit akustischen verbanden und damit die Entwicklung des Genres der Klangkunst in Deutschland prägten. Viele dieser Künstler waren zunächst intensiv im Bereich der Performancekunst tätig. So auch Christina Kubisch. Sie studierte Malerei in Stuttgart und Musik in Hamburg und Graz. In Zürich setzte sie das Musik- und Kunststudium fort, siedelte 1974 nach Mailand übers und studierte am dortigen Konservatorium Komposition bei Franco Donatoni und Elektronische Musik. All diese Jahre waren begleitet von einer intensiven Auseinandersetzung mit traditionellen Kunstbegriffen und von einer stetigen Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten.

Christina Kubisch komponierte in den 1970er Jahren Stücke, die einerseits eine Kritik an der traditionellen musikalischen Aufführungspraxis darstellten und andererseits ganz neue Klänge oder Interaktionen hervorbrachten, beispielsweise Identikit (1974), ein Divertimento für fünf Pianisten und Tonbänder. Bei diesem Stück werden den gemeinsam an einem Klavier sitzenden Interpreten jeweils zu spielende Rhythmen individuell per Kopfhörer zugespielt. Die akustische Spielanweisung und die ?Isolation? der Spieler sind hier Bedingungen für das gemeinsame Musizieren. In den Emergency Solos (1975) spielte Kubisch Flöte u.a. mit Boxhandschuhen, Gasmaske und Fingerhüten. Konzertreisen, Künstlerbekanntschaften und das Zusammentreffen mit John Cage waren Stationen ihres künstlerischen Weges, der bald auch die Grenzen zwischen Musik und Bildender Kunst überwand. Spätestens die Videoperformances mit Fabricio Plessi (zwischen 1974 und 1980) boten ihr Anlass einer weiteren musikalischen "Abstraktion", eines offenen Experiments mit konkretem Material. Form, Farbe, Licht; Klang, Raum und Zeit waren neu zu definierende Parameter. Kubisch zog sich als Performerin zurück und stellte in ihren Werken die sinnliche Wahrnehmung des Hörers und Betrachters in den Vordergrund. Um ihre künstlerischen Vorstellungen realisieren zu können, machte sie sich mit den neuesten technischen Möglichkeiten vertraut und studierte Elektronik am Technischen Institut in Mailand. Um 1980 schuf sie ihre ersten Klangkunstarbeiten, Klangskulpturen, Lichträume und Elektroakustischen Kompositionen.
 

KLANGRÄUME – ARBEITEN MIT ELEKTROMAGNETISCHER INDUKTION

Christina Kubisch braucht "offene" Räume. Zeiträume, Zwischenräume, Spielräume, architektonische Räume, Innen- und Außenräume, akustische Räume, musikalische Räume, Wahrnehmungs-, Assoziations- und Wirkungsräume ? historische und gegenwärtige Orte, Situationen und Zustände...Der "Raum" ist komplex und seine Erscheinungsformen vielfältig. Kubisch begibt sich in diese "Räume" und macht sie zu den Protagonisten ihrer Werke.

Bereits bei ihren ersten Installationen nutze sie das Prinzip der elektromagnetischen Induktion, um Klangräume jenseits des akustischen Realraums zu schaffen, in denen sich der Hörer frei bewegen und die er selbst gestalten kann. Im Raum verspannte elektrische Kabel, in denen Klänge oder musikalische Sequenzen zirkulieren, bilden sich begegnende elektromagnetische Felder. Mit speziell entwickelten Empfangsgeräten kann man die Klänge hören, die sich je nach Standpunkt und Bewegung überlagern, übertönen, isolieren, erscheinen und wieder verschwinden. Zunächst waren es "Kubische Würfel" mit Lautsprechern, die man sich an die Ohren halten musste, später von der Künstlerin entwickelte kabellose Kopfhörer, mit denen der Besucher die Installation begehen konnte. Seit den 1980er Jahren basieren zahlreiche von Kubischs Klanginstallationen auf diesem technischen System. Die ästhetischen Spielformen, die Art der Klänge und Klangräume sind die "Kompositionen", die sie für jeden Ort neu findet – seien es Kellergewölbe (Iter Magneticum, Galerie Giannozzo, Berlin 1986), Tiefgarage (KlangFlußLichtQuelle, Klangkunstforum Park Kolonnaden, Berlin 1999), öffentlicher Raum (Electrical Walks, seit 2003) oder Naturraum (Magnetsicher Wald, 1983).

LICHTSPUREN – ARBEITEN MIT LUMINESZENZ

Christina Kubisch wählt oft ungewöhnliche Orte für ihre Arbeiten – dunkle, verlassene, leere oder "zeitlose" Orte. Sie begibt sich dort auf Spurensuche und erfasst die Charakteristik der Orte. Mit reduzierten künstlerischen Mitteln und durch eine Fokussierung auf nur wenige Elemente schafft sie dann in ihren Installationen eine Atmosphäre, in der die Orte gleichsam in einen neuen artifiziellen Zeitfluss geraten. Auf beeindruckende Art und Weise wird ihre Geschichte vergegenwärtigt und an ihre einstige Funktion erinnert. Minimalistische Klänge mit natürlichem Gestus, aber auch die Anwendung von UV-Licht und fluoreszierenden Farben und Pigmenten ermöglichen einen konzentrierten "Blick", der das zum Vorschein bringt, was sonst verborgen bleibt. Es sind "Lichtspuren", lebendige Spuren und "Rhythmen", die offenbar werden – alte Staub- und Farbschichten, Ablagerungen werden sichtbar, aber auch architektonische Strukturen oder räumliche Ordnungen (consecutio temporum, verschiedene Orte, seit 1993).

Die Lumineszenz, das "kalte Leuchten", nutzt Kubisch seit Mitte der 1980er Jahre als Gestaltungsmittel. Bei ihren Arbeiten mit elektromagnetischer Induktion verwendet sie nun fluoreszierende Mittel, um die Kabelverspannungen sichtbar zu machen oder die Architektur nachzuzeichnen. Bald bezog sie auch "offene" Klänge bzw. Lautsprecher mit ein, und es entstanden ihre ersten Klangfelder, meist in verdunkelten Räumen als geschlossenes Ensemble angeordnete und mit fluoreszierendem Pigment versehene Lautsprecherchassis, die speziell für den Ort komponierte oft glockenähnliche Klangfolgen abspielen (Diapason, singuhr-hörgalerie, Berlin 2002). Die klaren Schwingungen der gläsernen, hellen Töne scheinen hervorragend mit dem schwebenden Lichtschein der Fluoreszenz zu korrespondieren, so dass oft ein magischer Eindruck und das Gefühl der Zeitlosigkeit entsteht.
 

ZWISCHENZEITEN

Das international präsente Werk von Christina Kubisch, mehrfache Stipendiatin und Preisträgerin, Gastdozentin verschiedener Universitäten und seit 1994 Professorin für Audiovisuelle Kunst an der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken, kann exemplarisch als etwas beschrieben werden, was eine "Synthese der Künste" vollzieht. Das Schaffen neuer Klangräume, die Integration zeitlicher Aspekte in die Bildende Kunst und ein offener Umgang mit Material und Form zeichnen die Arbeiten der Künstlerin aus. Nicht zufällig werden ihre Arbeiten oft mit der deutschen Romantik in Verbindung gebracht. Eine Zeit, in der die utopische Idee des Gesamtkunstwerks erste "grenzüberschreitende" Entwürfe hervorbrachte. Das Mondlicht, das kalte Licht des Dunkeln, und die "Zwischenzeiten", die Morgendämmerung und Abenddämmerung, waren beliebte künstlerische Motive. Der Rhythmus der Natur – die "Zwischenzeiten", die so zeitlos erscheinen – ist oft unmittelbar Teil der Klangskulpturen und Installationen von Christina Kubisch. So entwickelte sie beispielsweise in den 1990er Jahren solargesteuerte Techniken, die die Klänge und Klangfolgen je nach Lichteinfall beeinflussen (The True & The False, Tochoji Tempel, Tokyo 1992; 12 Klänge und ein Baum, Akademie der Künste, Berlin 1994). Bei ihren Arbeiten in und mit dem Außenraum treten dann Kunst und Natur, elektroakustische Klänge und natürliche Klangereignisse der Umwelt in einen faszinierenden Dialog. Christina Kubisch schafft hier einen Rahmen, innerhalb dessen ?alles möglich werden kann."

Melanie Uerlings

Christina Kubisch

Christina Kubisch (* 1948) studierte 1967/68 Malerei an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart; von 1969 bis 1974 folgten Studien an den Musikhochschulen in Hamburg, Graz und Zürich sowie zwischen 1974 und 1976 am Musikkonservatorium in Mailand. Nach langjähriger internationaler Lehrtätigkeit ist sie seit 1994 Professorin für Plastik/Audiovisuelle Kunst an der Hochschule der Bildenden Künste Saar. Kubisch, die in Berlin lebt, erhielt 2008 den Ehrenpreis des Deutschen Klangkunstpreises.
www.christinakubisch.de

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